Rosenheim: „Die beiden Schützen“

In Rosenheim gab es endlich die langersehnte Möglichkeit, Lortzings erste abendfüllende Oper auf der Bühne kennenzulernen. Die letzte Aufführung, die ich ärgerlicherweise verpaßt habe, fand 1981 (!) in Lüneburg statt. Die Rosenheimer Aufführung wurde von dem Verein „erlesene oper e.v.“ initiiert, der sich die Ausgrabung seltener Opern zum Ziel gesetzt hat.

Der Aufführung zu Grunde gelegt wurde die Partitur aus dem Dresdner Opernarchiv. Die beiden ersten Akte wurden vollständig und ohne Änderung der Musikfolge gespielt. Im 3. Akt hingegen wurde Peters Lied (Nr. 12) gestrichen, weil der Sänger aus mehreren Gründen erst spät mit den Proben beginnen konnte. Zwischen den Nummern 13 und 14 wurde eine Kerkerariette Gustavs eingefügt. Sie stammt aus dem Dresdner Aufführungsmaterial. Sie könnte durchaus von Lortzing stammen, war aber bis dato nicht bekannt. Die Dialoge wurden gestrafft und an wenigen Stellen sachte modernisiert. „Manche sehr ‚national gesinnte‘ Formulierung, die man im Zusammenhang mit der historischen Situation der Entstehungszeit sehen muss, habe ich entschärft und aktualisiert, weil sie heutzutage nicht mehr tragbar wäre.“ (Der Vereinsvorsitzende Georg Hermannsdorfer, Programmheft, S. 29) Wenige Seiten zuvor (S. 7) beklagte er – zu Recht –, dass Der Pole und sein Kind sowie Andreas Hofer „von der Zensur verboten bzw. teilweise zensiert“ wurden. Sein eigenes Handeln zeigt, daß bis heute die wirksamste Form der Zensur die Schere im eigenen Kopf ist. Zu seiner Ehrenrettung sei gesagt, daß die Gesangstexte weithin unberührt blieben. Anderes gilt freilich für die coupletartigen Lieder Peters und Schwarzbarts, die allerdings schon von Lortzing für das Extemporieren, das aktuelle Äußerungen ermöglichte, vorgesehen waren, ein Mittel, um die Zensur zu unterlaufen. Für die Vorzensur (Vgl. Programmheft, S. 36) mußten die Texte vor der Aufführung vorliegen. Situationsbedingte Änderungen waren schwerer zu erkennen. Lortzing trugen sie freilich in Leipzig durchaus einige Tage im Stadtgefängnis ein.

Die Oper, die ich bisher nur aus einer wenig überzeugenden Einspielung aus dem Jahre 1950 kannte, erwies sich als vollwertiger Lortzing. Die Einschätzung des 19. Jahrhunderts, die das Werk den 4 großen Lortzing-Opern an die Seite stellte, erwies sich als richtig. Die Oper enthält mit der Auftrittsarie des Wilhelm – „Da, wo schöne Mädchen wohnen“ – den ersten Lortzing-Schlager. Das Septett im 3. Akt ist eine wahre Perle der Ensemblekunst. Nach Rossini hat keiner mehr so viele und kunstvoll gearbeitete große Ensembles geschrieben wie Lortzing. Aber auch die nicht wenigen Ensembles in der übrigen Oper überzeugen durchwegs. Schon die Introduktion ist typischer Lortzing, obwohl es sich nicht um einen Handwerkerchor handelt, sondern um einen der Besucher der Gastwirtschaft. Besonders reizend ist noch das Duett zwischen Caroline und Gustav, aber auch die Arien beider. Damit habe ich nahezu die Musik der ganzen Oper aufgezählt, die es verdient, viel häufiger auf dem Spielplan unserer Bühnen zu erscheinen. Das für die Aufführung erstellte Material ist leihweise (wohl vermutlich: mietweise?) bei Georg Hermannsdörfer erhältlich.

Die musikalische Realisation ist weithin gelungen, entsprach jedenfalls den Möglichkeiten eines solchen Ensembles, das eine Mischung aus Laienchor und –orchester ist. Die Solisten sind überwiegend Profis, wenngleich nicht Weltspitze. Das Orchester spielte unter Leitung von Georg Hermannsdorfer lortzinggerecht. Einige Wackler sind umso verzeihlicher, als sie Spitzenorchestern auch unterlaufen. Und viele Details des  Orchestersatzes wurden sehr plastisch herausgearbeitet.

Gesungen wurde mehr oder weniger ordentlich. Mit Abstand am besten gefiel mir Sieglinde Zehetbauer als Caroline. Lortzing hat die Rolle auch viel kunstvoller und mit Koloraturen versehenen ausgestattet, für eine deutlich bessere Sängerin als die des Suschen (Christa Huber) oder gar der Jungfer Liebchen (Beatrix Schalk). Es ist wohl kein Zufall, dass die Arie des Suschen im 2. Akt nachkomponiert wurde. Andreas Agler sang als Wilhelm seine Auftrittsarie ohne Probleme, geriet aber in den folgenden Ensembles an seine Grenzen. Ähnliches gilt für den Gustav des Markus Kotschenreuther. Die tiefen Stimmen fielen etwas ab: Michael Doumas (Schwarzbart), Helmut Wiesböck (Amtmann Wall) und Martin Zimmerer (Unteroffizier Barsch). Über Werner Perrret als Gastwirt Busch läßt sich nichts Verbindliches sagen, er war hörbar erkältet.

Die Inszenierung war ein Labsal für alle vom Regietheater (besser: Regisseurtheater) Geschädigten. Die nicht wenigen Regieanweisungen Lortzings wurden alle buchstäblich umgesetzt. Das Bühnenbild war einfach, aber zweckentsprechend, die Kostüme passend. Und die Personenführung geriet bis in die einzelnen Chormitglieder hinein restlos  überzeugend. Auch insoweit wurden die Regieanweisungen, etwa im Septett, minutiös umgesetzt. Auf diese Weise entwickelte sich eine so lebhafte Bühnenaktion, von der die meisten modernen Regisseure, deren Arbeiten oft nicht über das Rampenstehen  hinauskommen, nur träumen können. Ein kleiner (sehr kleiner) Wermutstropfen sei nicht verschwiegen: Das wenig anheimelnde Ambiente des Kultur- und Kongresszentrums Rosenheim. Alles in allem war es eine Reise, die sich im hohen Maße gelohnt hat. Dank an den Verein „erlesene oper e.v.“

Bernd-Rüdiger Kern, besucht Vorstellung: 27. Februar 2016